Vom Schuldstrafrecht zum funktionalen Strafrecht

Veranstalter:
Baden-Württembergische Strafverteidiger e.V. | Initiative Bayerischer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V. | Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V. | Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V. | Vereinigung Hessischer Strafverteidiger e.V. | Strafrechtsausschuss des Kölner Anwaltverein e.V. Strafverteidigerinnen- und Strafverteidigerverein Mecklenburg-Vorpommern e.V. | Vereinigung Niedersächsischer und Bremer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V. | Strafverteidigervereinigung NRW e.V. | Vereinigung Rheinland-Pfälzischer und Saarländischer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V. | Strafverteidiger Sachsen/Sachsen-Anhalt e.V. | Schleswig-Holsteinische Strafverteidigervereinigung e.V.

Vom Schuldstrafrecht zum funktionalen Strafrecht

Thema:

1. Schuldstrafrecht

›Schuld‹ ist der zentrale Begriff des deutschen Strafrechts, das sich ›Schuldstrafrecht‹ nennt und das dem Rechtsstaatsprinzip als elementarem Prinzip des Grundgesetzes einschränkungslos verpflichtet ist. Schuld berührt unmittelbar die Frage der Geltung von Strafnormen und der Legitimation unseres Strafrechts überhaupt. Dennoch wird der Begriff der ›Schuld‹ im StGB an keiner Stelle definiert. Die vom Großen Senat des BGH 1952 gegebene Auffassung lautet:

»Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden, sobald er die sittliche Reife erlangt hat und solange die Anlagen zur freien sittlichen Selbstbestimmung nicht durch die in § 51 StGB genannten krankhaften Vorgänge vorübergehend gelähmt oder auf Dauer zerstört ist…
Der Mensch ist, weil er auf freie, sittliche Selbstbestimmung angelegt ist, auch jederzeit in die verantwortliche Entscheidung berufen, sich als Teilhaber der Rechtsgemeinschaft rechtmäßig zu verhalten und das Unrecht zu vermeiden.«

Wenn der BGH in dem zitierten Beschluss Begriffe wie »Schuld‹, »Freiheit« und »sittliche Selbstbestimmung« bemüht, darf davon ausgegangen werden, dass hier von mehr als nur den sozialpsychologischen und biochemischen Voraussetzungen des Gesetzesgehorsams die Rede ist. Vergleicht man aber den philosophischen Gehalt der Begriffe mit der Auslegung, die diese Begriffe von heutigen Strafrechtsdogmatikern und -kommentatoren erfahren, wird deutlich, dass wir es gegenwärtig nicht mit einem ›Update der Benutzeroberfläche‹ des Strafrechts zu tun haben, sondern mit einem kompletten Austausch des ›Betriebssystems‹, bei dem das wertorientierte Schuldstrafrecht ausgetauscht wird gegen schuldunabhängige ›Richtigkeitsrechtsprechung‹ eines funktionalen Strafrechts als ergebnisorientiertem Regelwerk gesellschaftlicher Befriedung.

Das kann man wollen – muss es dann aber auch so benennen, statt funktionales Strafrecht im Wege inflationärer Gesetzgebung und unhaltbarer Auslegung als dogmatisch modernisiertes Schuldstrafrecht verkleidet quasi heimlich einführen zu wollen. Und man sollte voraussehen, mit welchen Konsequenzen ein solcher Paradigmenwechsel verbunden ist.


2. Funktionales Strafrecht

Dem funktionalen Strafrecht geht es um die Verfolgung überindividueller, von Gesellschaft und Staat definierter Interessen, vor allem aber um den Selbsterhalt der jeweiligen politischen Ordnung. Unter dieser Prämisse wird das Strafrecht von einer Begrenzung der Politik zu ihrem Mittel.

Stand hinter dem herkömmlichen Schuldprinzip das Menschenbild einer durch Freiheit, Vernunft und Sittlichkeit charakterisierten Person, die die Legitimation des Strafrechts und der sie treffenden Strafe mitträgt, so hat das funktionale Strafrecht den Bürger als Quelle der Gefahr ausgemacht. Dem Schuldstrafrecht steht ein Mensch gegenüber, der zur sinnhaften Orientierung an der Norm fähig und Adressat einer durch seine Schuld begrenzten Strafe ist; im funktionalen Strafrecht ist der Mensch nur zum Gehorsam gegenüber der Norm zu veranlassen und Adressat der an ihren generalpräventiven Wirkungen zu messenden Zwangsmaßnahmen.

Damit einher geht eine tendenzielle Maßlosigkeit, mit der die staatliche Gewalt auf Rechtsbruch reagiert, wenn mit dem funktionalen Konzept der Zweck (Rechtsfrieden, Rechtsempfinden der Bevölkerung, Sicherheit usw.) das Maß der Einwirkung auf den Täter (oder »Gefährder«) bestimmt. Denn es sind die instrumentellen Wirkungen, die man sich von der jeweiligen Maßnahme verspricht, die die Suche nach der Reaktion bestimmen und nicht die gerechtigkeitsorientierte Frage nach der Qualität der Unrechtsmaterie.

Die Funktionalisierung des Strafrechts zur Verfolgung präventiver Anliegen bringt die immer weitere Entfernung vom Ultima Ratio Prinzip mit sich. Hinzu kommt, dass die beständige Ausweitung und Verschärfung des materiellen Strafrechts derzeit nahezu fließbandmäßig als Beweis politischer Handlungsfähigkeit missbraucht wird. Für das Verfahrensrecht gilt, dass Funktionalisierung mit Entformalisierung einher geht. Verfahrensvereinfachung und Ökonomisierung mit den Bestrebungen zu einem konsensualen Verfahren sind ein Geschenk des funktionalen Strafrechts und wohl eines der deutlichsten Zeichen der Verabschiedung vom Schuldprinzip. Auf diesem Boden wachsen die Entgrenzung staatlicher Eingriffsmöglichkeiten und die Einschränkung von Beschuldigten- und Verteidigerrechten gleichermaßen. 

 

 

Programm

Freitag, 20. März 2020
Großer Konzertsaal der Universität der Künste

 

Ab

17.00 Uhr      Anmeldung und Akkreditierung 
18.30 Uhr      Eröffnung und Begrüßung

 

Eröffnungsvortrag

Rechtsanwalt Stefan Conen, Berlin

»Vom Schuldstrafrecht zum funktionalen Strafrecht« 

 

im Anschluss Empfang für die Gäste & Teilnehmer*innen des Strafverteidigertages

 

Samstag, 21. März 2020
Technische Universität & Universität der Künste

9.00 - 12.30 & 14.00 - 17.00 Uhr Arbeitsgruppen 

 

18.00 Uhr      Aktuelles aus Europa : RA Carl W. Heydenreich und RAin Dr. Anna Oehmichen 

18.30 Uhr      Historischer Vortrag : Strafrecht, Strafjustiz und Strafverteidigung im NS. Lehren und Kontinuitäten                      mit Prof. Dr. Kai Ambos & RA Prof. Dr. Stefan König 

 

ganztägig: Digitale Forensik und computer-gestützte Beweismittelauswertung Ausstellung und Fachvorträge 


ab 21.00 Uhr : Abendveranstaltung im SUPER - Budapester Straße 50, Rooftop, 2. Etage, 10787 Berlin mit Live-Musik und DJs


Sonntag, 22. März 2020

Großer Konzertsaal der Universität der Künste

10.00 - 12.30 Uhr Schlussplenum (Thema wird noch bekannt gegeben) 

 

 

Arbeitsgruppen

 

1 Rechtsstaat zwischen Freiheit und Sicherheit – wie der Begriff ›Rechtsstaat‹ von Law & Order gekapert wird

 

Seit den ersten Strafverteidigertagen beschäftigen wir uns mit gesetzgeberischen Vorlagen, die aus Sicht der Strafverteidigervereinigungen rechtsstaatlich bedenklich sind, Beschuldigtenrechte eingrenzen und die Gewichte im fairen Prozess zugunsten der Justiz verschieben.

 

Das ›Gesetz zur Modernisierung des Strafprozesses‹ ist das aktuellste Beispiel für diese Entwicklung – wobei zu befürchten ist, dass bis zum Beginn des 44. Strafverteidigertages in Berlin bereits wieder neue Vorschläge auf dem Tisch liegen. Regelmäßig finden nahezu ausschließlich Vorschläge aus Richterschaft und Strafverfolgungsbehörden Eingang in die Gesetzgebungsmaschinerie; trotz Expertenanhörungen im Rechtsausschuss und anderen politischen Gremien unter Teilnahme der Anwaltschaft finden Bürgerrechte und Strafverteidigervereinigungen kein Gehör.

Mehr noch: Unter der Präambel ›Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege‹ wird der Begriff ›Rechtsstaat‹ benutzt, um Beschuldigten- und Verteidigerrechte weiter abzubauen.

 

Die Arbeitsgemeinschaft will diese Entwicklung vom Rechtsstaatsbegriff als liberalem Abwehrrecht gegenüber staatlicher Machtausübung hin zur Eingriffsnorm für die Ausweitung ebensolcher Befugnisse wissenschaftlich näher untersuchen.

 

Dargestellt wird die Entwicklung der Ausweitung prozessualer Eingriffsbefugnisse und untersucht, warum Grundrechte keine Lobby haben. Der rechtshistorische Ursprung des Rechtsstaatsbegriffs im Liberalismus wird der Umdeutung dieses Begriffs durch konservativ-autoritäre Kräfte gegenübergestellt. Die Arbeitsgemeinschaft befasst sich auch mit dem Bild der Anwaltschaft und der Strafverteidigung in der öffentlichen Debatte. Unter dem Stichwort »Asylindustrie« oder der Forderung nach »Berücksichtigung des Rechtsempfindens weiter Teile der Bevölkerung« (Innenminister Reul, NRW) ist bereits öffentlich wirksam dargelegt worden, was Repräsentanten des Rechtsstaats von anwaltlicher Tätigkeit halten. Engagierte Verteidigung wird wahrgenommen als Sabotage am Strafprozess, am Rechtsstaat.

 

Hierzu passt die Entwicklung der Rechtsprechung zu Verfahrensfehlern und deren Rechtsfolgen: Gibt es Beweisverwertungsverbote?

 

Es referieren:

Professor Dr. Tobias Singelnstein zum Thema ›Hauptsache sicher! – Der preventive turn in der Sicherheitsgesellschaft‹

Professor Dr. Thomas Fischer zum Thema ›Rechtsstaatsdämmerung? – Vom liberalen Abwehrrecht zur Eingriffsnorm der Staatsgewalt‹

Professor Dr. Stephan Barton zum Thema ›Saboteure des Rechtsstaats? – Das Anwaltsbild in der öffentlichen Debatte‹

Vors. RiLG Dr. Holger Niehaus zum Thema ›Rechtsstaatliche Leinen los? – Die Entwicklung der Rechtsprechung zu Beweisverwertungsverboten‹

Moderation: Rechtsanwalt Georg Schulze, Bielefeld

 

 

2 Strafbefehl

 

Der Großteil der strafrechtlichen Ermittlungsverfahren endet – wird das Verfahren nicht eingestellt – mit dem Antrag auf Erlass eines Strafbefehls. Für diesen ist ein hinreichender Tatverdacht ausreichend. Der Strafbefehl ist Anklageschrift, Urteil und unwidersprochener Transfer polizeilicher Ermittlung in die prozessuale ›Wahrheit‹ in einem. 

 

Dabei dürfte das Wesen des Strafbefehls von einem Teil der Betroffenen falsch verstanden werden: Betroffene können davon ausgehen, dass wegen des Bagatellcharakters mancher Taten lediglich eine Art Geldbuße verhängt wird und eine Gerichtsverhandlung deswegen nicht notwendig ist. Einige sind froh, nicht vor Gericht erscheinen zu müssen, und zahlen lieber das vermeintliche Bußgeld, selbst wenn sie sich nicht schuldig fühlen oder nicht schuldig sind. 

 

Die Effektivität des Strafbefehlsverfahrens aus Sicht der Justiz ist immens. In manchen Bundesländern sind der weit überwiegende Anteil aller Anklagen Strafbefehlsanträge, die in den zahlenmäßig weit überwiegenden Fällen ohne Einspruch, d.h. ohne rechtliches Gehör zu Urteilen werden. Einer Vielzahl von Beschuldigten wird aus weiteren Gründen kein effektives rechtliches Gehör zu Teil. Einerseits nehmen sozial schwache, bildungsferne, psychisch beeinträchtigte oder sprachunkundige Menschen die Möglichkeit des Einspruchs nicht wahr, sei es, weil sie die Rechtsmittelbelehrung nicht verstehen, sei es, weil sie davon ausgehen, sich die Verteidigung nicht leisten zu können, sei es, weil sie das Wesen des Strafbefehls missverstehen. Andererseits leistet das fehlende Verschlechterungsverbot der freien Wahrnehmung der Einspruchsmöglichkeit keinen wirklichen Vorschub. Schließlich beeinträchtigt die auf § 244 Abs. 2 StPO reduzierte Beweisaufnahme (vgl. §§ 411 Abs. 2 S. 2, 420 Abs. 4) die Möglichkeiten der Verteidigung. 

 

Die mit dem Strafbefehl einhergehende Verurteilung führt zur Eintragung ins Bundeszentralregister und ggf. ins Führungszeugnis. Eine Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen (auch kumuliert in mehreren Verfahren) steht einer Einbürgerung entgegen. Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz stellen im Einzelfall auch bei Geldstrafen einen Ausweisungsgrund dar. Der Strafbefehl kann in Fällen der Eintragung in ein erweitertes Führungszeugnis faktisch und rechtlich Berufsverbote nach sich ziehen. Auch der kiffende Lehrer darf bei einer Geldstrafe von wenigen Tagessätzen nach § 25 Nr. 4 JugendArbSchG nicht mehr seinen Beruf ausüben. 

 

Den durchaus gravierenden Folgen des Strafbefehls steht eine hohe Fehleranfälligkeit des Verfahrens bis zu seinem Erlass gegenüber. 

 

Das Beweisverfahren ist polizeilich-summarisch und nicht kontradiktorisch angelegt. Die Schlüssigkeit der Sachlage wird aufgrund der Kürze des Verfahrens stark von Vornahmen beeinflusst.

Werden diese Vornahmen von Beginn an nicht hinterfragt, so führt das auf Schlüssigkeit angelegte Verfahren dazu, dass ihnen zugrunde liegende Fehler selbst bei rechtzeitigem Einspruch nicht einfach beseitigt werden können. Gerade im Strafbefehlsverfahren ist davon auszugehen, dass Ersatzfreiheitsstrafe und Zwangsvollstreckung zu häufig die Folgen von Fehlurteilen sind. 

 

Die Arbeitsgemeinschaft befasst sich mit den Fragen:


- Wer sind die Betroffenen des Strafbefehlsverfahrens? Handelt es sich überproportional um sozial schwache Personen? Welches sind die Deliktsgruppen des Strafbefehlsverfahrens? Sind überproportional Frauen von Strafbefehlen und Geldstrafen betroffen? 

 

- Gebieten die Folgen des Strafbefehlsverfahrens (entziehungs-, einziehungs-, berufs- und gewerberechtliche, aufenthalts- und einbürgerungsrechtliche) Änderungen auch im Recht der Pflichtverteidigung? 

 

- Hat die Strafjustiz die Einzelfallentscheidung gegen Effektivität und Erledigungszahlen eingetauscht? Gewährt die Einspruchsmöglichkeit des § 410 Abs. 1 StPO ausreichend rechtliches Gehör? Wie passt das fehlende Verschlechterungsverbot zum Anspruch auf rechtliches Gehör? Welche Folgen hat das auf § 244 Abs. 2 StPO reduzierte Beweisantragsrecht? Welche entscheidungsrelevanten Informationen bleiben im Strafbefehlsverfahren unterbelichtet? 

 

- Sind Strafbefehlsverfahren besonders anfällig für Fehlurteile? Kann das Strafbefehlsverfahren so reformiert werden, dass die Fehleranfälligkeit auf ein annehmbares Maß reduziert wird?

 

- Verhindert das Strafbefehlsverfahren die Entkriminalisierung solcher Delikte, die auch Einstellungen zugänglich sind? Ist das Strafbefehlsverfahren zu leicht, zu schnell, zu einfach? 

Die Arbeitsgemeinschaft unterbreitet Vorschläge zur effektiven Verteidigung im Strafbefehlsverfahren, auch unter Bezug auf ein Beratungsprojekt der Vereinigung Berliner Strafverteidiger. 

 

Referent*innen:

Rechtsanwalt Prof. Dr. Helmut Pollähne, Bremen - zu Verfahrenskultur im Strafbefehlsverfahren - Folgen des fehlenden Verschlechterungsverbots und des auf § 244 Abs. 2 StPO reduzierten Beweisantragsrechts

Prof. Dr. Stefanie Kemme, - zu Strafbefehl und Fehlurteil

Andreas Rische, Richter am Amtsgericht Tiergarten (angefragt) – zur Rechtswirklichkeit des Strafbefehlsverfahrens 

Rechtsanwalt Dr. Tobias Lubitz, Berlin - zu Armut und Kriminalität; 

Dr. Bärbel Bardarsky, Leiterin der JVA für Frauen, Berlin - zu Strafbefehl und Ersatzfreiheitsstrafe

Prof. Dr. Carsten Momsen, FU-Berlin - zur ›Law Clinic‹ in der Rechtsberatung für Strafbefehlsempfänger 

Moderation: Rechtsanwältin Cäcilia Rennert, & Rechtsanwalt Hannes Honecker, beide Berlin

 

 

3 Das Ende der Fluchtgefahr?

 

Untersuchungshaft ist Freiheitsentzug an Unschuldigen. Sie darf nur in eng begrenzten Ausnahmefällen angeordnet werden. Der Rückgang der Straftaten wie auch der Zahl der Strafgefangenen ließe erwarten, dass auch die Untersuchungshaft zurückgeht. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Von 2014 bis Ende 2017 ist die Zahl der Untersuchungsgefangenen um 25 Prozent gestiegen, in den Stadtstaaten hat sie sich in diesem Zeitraum sogar fast verdoppelt.

 

Mehr als 90 Prozent der Haftbefehle sind auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt. Diese wird häufig nur dürftig mit Hinweis auf eine vermeintlich hohe Straferwartung und demgegenüber unzureichende soziale Bindungen begründet. Dabei realisiert sich die angebliche Straferwartung in vielen Fällen nicht. Neuere Untersuchungen bei Beschuldigten, die vor einem Urteil aus der Untersuchungshaft entlassen wurden, zeigen zudem deutlich, dass die Annahme von Fluchtgefahr in der überwiegenden Zahl der Fälle nachweislich falsch war.

In der Arbeitsgruppe sollen diese Untersuchungen vorgestellt werden. Auf dieser Basis wollen wir diskutieren, welche Folgerungen hieraus rechtspolitisch, aber auch für die Praxis der Strafverteidigung gezogen werden können.

Außerdem soll der Vollzug der Untersuchungshaft kritisch erörtert werden. Ihr Zweck besteht ausschließlich darin, die Durchführung des Verfahrens zu sichern. Untersuchungsgefangene sind jedoch vielfach noch stärkeren Einschränkungen unterworfen als selbst Strafgefangene. Auch wenn in einigen Fällen noch Untersuchungshaft zu vollziehen sein sollte, muss diese den Gefangenen so viel Freiheit wie möglich belassen.

 

Referent*innen:

Rechtsanwältin Dr. Lara Wolf, Berlin

RiKG Detlef Lind, Berlin

Rechtsanwalt Dr. Frank Nobis, Iserlohn

Gerd Koop, ehemlaiger Leiter der JVA Oldenburg

Moderation: Rechtsanwältin Dr. Angelika Bode, Hannover

 

 

4 ›Better don´t touch‹ - Neues Sexualstrafrecht 


Die bereits 1973 mit der Änderung der Schutzrichtung von der »Sittlichkeit« zur »sexuellen Selbstbestimmung« begonnenen Reformen des Sexualstrafrechts dauern an. Das Sexualstrafrecht wurde mehrfach grundlegend reformiert, bestehende Tatbestände wurden ausgeweitet, neue Tatbestände eingeführt und die Teilhaberechte von Opfern am Strafverfahren gestärkt. Diese Entwicklung hat mit der letzten umfassenden Reform des Sexualstrafrechts, die begleitet war von gesellschaftlichen Debatten um das sexuelle Selbstbestimmungsrecht und die Gleichberechtigung von Frauen (»Nein heißt Nein«, »Team Gina Lisa«) mit dem 50. StÄG vom 04.11.2016 wohl nur vorübergehend einen Höhepunkt gefunden, wie die aktuelle Diskussion um die Strafbarkeit des ›Stealthing‹ (heimliches Abziehen des Kondoms beim Geschlechtsverkehr) zeigt. Kernpunkt der Reform war die Änderung des § 177 StGB, es wurde neben dem Tatbestand der sexuellen Handlungen gegen den erkennbaren Willen (§ 177 Abs. 1 StGB) ein Mischtatbestand aus Missbrauch von Gelegenheiten und Nötigung (§ 177 Abs. 2 Nr.1 bis Nr. 5 StGB) geschaffen sowie der Straftatbestand der sexuellen Belästigung (§ 184i StGB) und der Straftaten aus Gruppen (§ 184j StGB) neu eingeführt. 

 

Vielfach kritisiert wurde die »exzessive Ausdehnung eines Opfer-Schutzkonzepts auf das materielle Strafrecht« (Thomas Fischer), die Übernahme der populären Forderung »Nein heißt Nein« als Leitprinzip des Sexualstrafrechts und die grundlegend neue Konzeption des Schutzguts der sexuellen Selbstbestimmung (Elisa Hoven). Seit drei Jahren finden die neuen Regelungen nun Anwendung. Die Zahl der angezeigten Straftaten steigt, die Ermittlungsbehörden gehen von einer weit über 50 Prozent liegenden Anzahl von Falschbeschuldigungen aus. Verfahren mit dem Vorwurf einer Sexualstraftat finden häufig große öffentliche Resonanz, die »Opfer« werden im Rahmen eines engmaschigen Betreuungskonzepts von mannigfaltigen Institutionen unterstützt und auf die Aussagen vorbereitet. Die Straftatbestände sind unüberschaubar, ausufernd und so kompliziert, dass ihre praktische Handhabung Ermittlungsbehörden, Gerichte und die Verteidigung vor große Probleme stellt. Die Vernehmung von »Opfern« von Sexualstraftaten und die Ermittlungen in diesem Verfahren nehmen große Kapazitäten der Polizei in Anspruch. Der zwischenzeitlich absolut übliche übervorsichtige Umgang mit »Opfern« bei polizeilichen Vernehmungen oder in der Hauptverhandlung erschwert konkrete Feststellungen und eröffnet den Raum für Spekulationen, die meist zuungunsten des Beschuldigten ausgehen. Die Bewertung einer Aussage, deren wesentliches Merkmal das subjektive Empfinden des »Opfers« ist, ist mit den bisher geltenden aussagepsychologischen und Glaubwürdigkeitskriterien fast nicht mehr möglich. 

 

Wie also muss und kann von der Verteidigung in der Praxis auf die veränderte Rechtslage und auch die veränderten Gegebenheiten in diesem Verfahren reagiert werden? Bleibt jetzt nur noch die Resignation oder kann diese Entwicklung mit vernünftigen rechtspolitischen Argumenten gestoppt oder gar rückgängig gemacht werden?

 

Die Arbeitsgruppe wird sich mit einer Zustandsbeschreibung nach der Reform seit November 2016 befassen (z.B. derzeitiges Forschungsprojekt von Prof. Dr. Daniela Klimke zu Falschbeschuldigungen bei Vergewaltigungen), Handlungsalternativen für die Verteidigung in Sexualstrafverfahren unter den veränderten Bedingungen suchen und die Frage diskutieren, ob und welche Möglichkeiten es gibt, Einfluss auf die rechtspolitische Diskussion zu nehmen und weitere Verschärfungen des Sexualstrafrechts zu verhindern. 

 

Referent*innen: 

Prof. Dr. Daniela Klimke, Soziologin und Kriminologin, Polizeiakademie Niedersachsen 

Prof. Dr. Elisa Hoven, Universität Leipzig 

Prof. Dr. Dr. Rüdiger Lautmann, Soziologe und Sexualwissenschaftler, Berlin (a.D.) 

Polizeikommissar Andreas Blaimberger, Polizeiakademie Niedersachsen 

Staatsanwalt Martin Reiter, Koordinator für Cyberkriminalität der Staatsanwaltschaft Saarbrücken

Moderation: Rechtsanwältin Anette Scharfenberg, Lörrach

 

 

5 Wirtschaftsstrafrecht

 

Der Bereich des Wirtschaftsstrafrechts wächst weiter. Damit geht die besorgniserregende Abkehr vom Schuldstrafrecht zu einem rein funktionalen Strafrecht einher. Im Wirtschaftsstrafrecht haben sich so viele neue Strafbarkeitsrisiken wie in wohl kaum einem anderen Gebiet des Strafrechts in der jüngsten Vergangenheit aufgetan. Zugleich gilt der unantastbare Grundsatz allen staatlichen Strafens ›nulla poena sine culpa‹ im Wirtschaftsstrafrecht nicht mehr bedingungslos und steht hier geradezu im Gegensatz zum aktuell herrschenden Zeitgeist. Modern ist hier vielmehr, den Strafausspruch von der Frage der Schuld zu lösen.

 

Die AG soll die besonders von dieser problematischen Entwicklung betroffenen Bereiche des Wirtschaftsstrafrechts beleuchten:

 

Nachdem nun die Ausweitung der Sanktionierung von Unternehmen in der Arbeitsfassung des Referentenentwurfs des BMJV vom 15. August 2019 als »Gesetz zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten« politisch auf den Weg gebracht wurde, sollen in der AG mögliche kritische Berührungspunkte mit dem Schuldprinzip und das Für und Wider sowie das sodann geltende Recht mit seinen Anwendungsvoraussetzungen und (mutmaßlichen) Problemfeldern aus Verteidigersicht thematisiert werden.

 

Im Rahmen und in Folge von internen Ermittlungen in Unternehmen stellt sich die Frage, von wem und in welcher Form Feststellungen zum Sachverhalt und zur individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit tatsächlich getroffen werden und ob dies mit unseren rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen überhaupt noch vereinbar ist.

 

Bei der Verteidigung von Unternehmen stehen regelmäßig andere Gesichtspunkte als die Frage nach der strafrechtlichen Schuld des Individuums im Vordergrund. Der Fokus liegt hier vielmehr auf den wirtschaftlichen Folgen für das Unternehmen und die Erhaltung von Arbeitsplätzen. So findet z.B. die Verfahrensbeendigung nach § 153a StPO – auch zur Bewältigung des teils erheblichen Umfangs der Verfahren – einen weiten Anwendungsbereich.

 

Schließlich sollen die Sicht der Justiz auf diese und andere Probleme moderner Wirtschaftsstrafverfahren und entsprechende Lösungsansätze – auch vor dem Hintergrund einer möglichen »Entrümpelung« der bestehenden Regelungen – hierzu diskutiert werden.


Referent*innen:

Rechtsanwalt Dr. Philipp Gehrmann, Berlin

Rechtsanwältin Dr. Carolin Weyand, Frankfurt/Main

Rechtsanwalt Felix Rettenmaier, Frankfurt/Main

VorsRiLG Werner Gröschel, Frankfurt

Moderation: Rechtsanwalt Dr. Oliver Sahan, Hamburg

 

 

6 Die Disziplinierung der Verteidigung durch Zudrehen des Geldhahns oder Das Kostenrecht als Rechtswegsperre 


Wer sich als Beschuldigter gegen einen schwerwiegenden oder umfangreichen Vorwurf verteidigen muss, wird sich eine Wahlverteidigung nur leisten können, wenn er im oberen Zehntel der Einkommenspyramide lebt oder zu den Wenigen gehört, die für eine ›gefahrgeneigte‹ Arbeit eine Spezialrechtsschutzversicherung abgeschlossen haben. Otto Normalverbraucher hingegen kann sich eine die Waffengleichheit gegenüber den Strafverfolgungsbehörden herstellende Verteidigung regelmäßig nicht leisten und wird – zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt des Verfahrens – das Institut der Pflichtverteidigung in Anspruch nehmen müssen. Aber auch an sich finanziell bessergestellten Beschuldigten wird angesichts des am 1.7.2017 in Kraft getretenen Neuregelung des Rechts der Vermögenseinziehung häufiger als früher das nötige Kleingeld fehlen, um eine Wahlverteidigerin oder einen Wahlverteidiger zu bezahlen. 

 

Bundesverfassungsgericht und EGMR betonen zwar regelmäßig, dass das Institut der Pflichtverteidigung der Wahlverteidigung möglichst gleichzukommen habe und – so EGMR, StV 1985, 441 – dem Beschuldigten einen Anspruch auf »konkrete und wirkliche Verteidigung« ohne Rücksicht auf seine Einkommensverhältnisse vermittele. Das folge aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Grundsatz der Waffengleichheit. 

 

Pflichtverteidigung muss aber angemessen vergütet werden, wenn sie auf Dauer genauso effektiv wie eine Wahlverteidigung auf Basis einer Vergütungsvereinbarung sein soll. Pflichtmandate übernehmende Rechtsanwält*innen müssen wie ein Wahlverteidiger von ihrer Vergütung ihre Kanzleiraummiete und Mitarbeiter bezahlen, ihren und ihrer Familie Lebensunterhalt bestreiten und für ihre Altersvorsorge Rücklagen bilden können. Die Vorstellung, Pflichtverteidigung sei ein Sonderopfer der Anwaltschaft für den Rechtsstaat, das durch Erlöse aus anderen Mandaten querfinanziert werde, ist im Zeitalter hochspezialisierter Fachanwaltschaften in der Praxis überholt worden und verbrämt in Wahrheit nur den eines Rechtsstaates unwürdigen Zustand, dass chronisch unterbezahlte Idealist*innen die Bürgerrechte der Armen gegenüber dem Staat durchsetzen müssen. 

 

Der Rechtsstaat hat Waffengleichheit zu gewährleisten. Die wiederum kostet mehr als Sonntagsreden. Nämlich Geld. Der Rechtsstaat wiederum soll vieles. Eines darf er aber vor allen Dingen nicht: Viel kosten.

 

Die AG wird sich mit verschiedenen Aspekten des Grundproblems beschäftigten, das darin liegt, dass Gesetzgeber und Justiz für eine effektive Pflichtverteidigung nicht genug Geld zur Verfügung stellen. Das fängt ganz allgemein mit der für alle nicht ganz einfach gelagerten Fälle nicht kostendeckenden Gebührenregelung in den Nr. 4100 ff. VV RVG an; sie wird ferner diskutieren, ob die von der Rechtsprechung vorgenommene strenge Auslegung des § 51 RVG verfassungskonform ist und nimmt auch die zunehmend exzessive und analoge Anwendung des § 145 Abs. 4 StPO durch die Rechtsprechung ebenso aus dem Blickwinkel des Art. 12 GG in den Blick wie die regelmäßige Nichtbeiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers auch in Umfangsverfahren und erörtert vor dem Hintergrund besonders krasser Entscheidungen in der jüngeren Zeit, ob das Zudrehen des Geldhahns nicht sogar eine Methode zur »Bekämpfung« einer als zu engagiert empfundenen Verteidigung geworden ist. Rechtsvergleichend wagen wir einen Blick über den nationalen Tellerrand und hören uns an, wie die Pflichtverteidigung in anderen Rechtsordnungen (etwa beim IStGH und in der Schweiz) vergütet wird und diskutieren, ob sich die Übernahme eines solchen Systems, etwa die Vergütung nach konkretem Bedarf oder nach Stundensätzen, empfiehlt. 

 

Referent*innen: 

Rechtsanwalt Prof. Dr. Michael Tsambikakis, Köln

Prof. Dr. Gunhild Godenzi, LL.M., Zürich, (angefragt)

Rechtsanwältin Natalie von Wistinghausen, Berlin

Rechtsanwalt N. N. 

Prof. Dr. Matthias Kilian, Köln (angefragt)

Moderation: Rechtsanwalt Peter Syben, Köln

 

 

7 The Disappearing Trial

 

Vor ca. zwei Jahren ist eine Studie veröffentlicht worden, die international die Bedingungen von Verständigungen bzw. die Aufgabe eines streitigen Verfahrens zugunsten einer Sanktionsvereinbarung untersuchte. Ergebnis war, dass sich der ›Deal‹ ausweitet. Von 90 untersuchten Ländern haben mehr als Zweidrittel, nämlich 66, unterschiedliche Verzichtssysteme zugunsten eines Schuldbekenntnisses mit Sanktionsvereinbarung. 1990 war dies lediglich in 19 Ländern der Fall.

 

In den USA, wo die Datenlage am klarsten zu sein scheint, werden mittlerweile 97 Prozent aller Fälle im Wege der Verständigung erledigt. Beruhigend erklärbar wäre dies eigentlich nur damit, dass entweder der selektive Anklagemechanismus so zuverlässig wäre, dass aus Sicht der Angeklagten ein bestreitendes Verfahren per se sinnlos wäre und sie die für sie legitime Abkürzung der vermeintlich strafmildernden Verständigung aufgrund des zutreffend vorgeworfenen Sachverhalts suchen. Dagegen wäre wenig zu erinnern. Zu besorgen ist aber umgekehrt, dass ein streitiges Verfahren möglicherweise auch für mit unzutreffenden Vorwürfen konfrontierte Angeklagte mit einem so hohen Risiko ungleich härter bestraft zu werden verbunden ist und das Vertrauen, sich in einem derartigen Prozess realistisch gegen eine auch unzutreffende Anklage verteidigen zu können, denkbar gering ist. Die Datenlage weist aber klar darauf hin, dass letzteres der Fall ist. 

 

Allein im Fall der erfolgreichen Wiederaufnahmen nachweislich unschuldig angeklagter Personen lag den falschen Verurteilungen in 44 Prozent ein unzutreffendes Schuldbekenntnis im Wege einer Vereinbarung zugrunde. 

 

Dabei ist nach der Studie wohl auch festzustellen, dass international betrachtet das Interesse an Verständigungen ein staatliches ist. So wie die Regelungen überwiegend ausgestaltet sind, schützen sie zumindest im Ergebnis überwiegend die staatlichen Strafverfolgungsbelange. Dies betrifft auch den Umstand, dass die Beachtung schützender Formen durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren nicht mehr hinterfragt wird und hierdurch auch eine Disziplinierungsfunktion für die polizeiliche Arbeit verloren geht. Es gibt zudem Anhaltspunkte dafür, dass Verfahren mit offensichtlichen formalen Verstößen im Rahmen der Ermittlungen staatlicherseits später ebenso für besonders ›dealgeeignet‹ befunden werden wie solche mit eigentlich schwacher Beweislage. Hierdurch wird der kritische Prüfstand einer Hauptverhandlung durch den oberflächlichen Eindruck abgelöst, regelmäßig (im Beispiel der USA 97 Prozent) laufe alles ›sauber‹. Dies droht wiederrum als vermeintlich empirisch abgesicherte Prämisse auf die verbleibenden streitigen Fälle (drei Prozent) verfahrenspsychologisch auszustrahlen. Gleichzeitig beeinflussen derartige Scheingewissheiten die öffentliche Wahrnehmung von Strafverfolgung und damit auch den Gesetzgebungsprozess.
Die AG soll diese Studie und deren Ergebnisse vorstellen und die aufgezeigten Gefahren der staatlichen Funktionalisierung von Verständigungen anhand unserer nationalen Rechtslage beleuchten.

 

Referent*innen: 

Vorsitzende Richterin Kristin Klimke, Landgericht Berlin 

Rechtanwalt Eberhard Kempf, Frankfurt/Main

Prof. Dr. Karsten Altenhain, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 

Darryl K. Brown, University of Virginia, USA

Moderation: Rechtsanwältin Ria Halbritter, Berlin

 

 

8 Gerichtssprache: Deutsch

 

Dass im Strafprozess die deutsche Sprache genutzt wird, ist zunächst einmal selbstverständlich. Sprachbeherrschung ist allerdings nicht nur notwendig für die Teilhabe am Verfahren, sondern auch Instrument der Macht und der Manipulation. 

 

Zur Bedeutung der Sprache im Strafverfahren und der Kommunikation im Strafverfahren wird Rechtsanwalt Prof. Dr. Ulrich Sommer aus Köln referieren. 

 

Dr. Oliver Gerson von der Universität Passau wird zum Thema ›Framing‹ referieren. 
»Framing bezeichnet das Einbetten eines Themas in ein bestimmtes Bedeutungsumfeld. Frames sind (laut Goffman) grundlegende kognitive Strukturen, die die Wahrnehmung und Widerspiegelung von Realität lenken. Im Allgemeinen werden Frames nicht bewusst erzeugt, werden jedoch unbewusst während des kommunikativen Prozesses übernommen. Vereinfacht lässt sich sagen, dass Frames durch eine bestimmte Themenstrukturierung die Blickrichtung des Informationsprozesses vorgeben und regeln, welche Teile einer dargebotenen Realität wir mit hoher Wahrscheinlichkeit bemerken.« 
Dietlind Broders ist vereidigte Dolmetscherin für Englisch und Französisch, war lange als Simultandolmetscherin international tätig und ist jetzt freiberufliche Dolmetscherin. Sie dolmetscht auch sehr viel als Gerichtsdolmetscherin. Sie wird über Qualitätsanforderungen an Dolmetscher und Probleme des Dolmetschers in der Hauptverhandlung referieren.

 

Rechtsanwältin Alexandra Elek aus Hamburg wird den rechtlichen Rahmen zum Dolmetschen und Übersetzen und zur Leistung vom Sprachsachverständigen im Rahmen des Strafverfahrens vortragen.
Moderiert wird die Arbeitsgruppe von Rechtsanwalt Arne Timmermann aus Hamburg.

 

 

9 Erleben, Verstehen, Voraussehen – Verteidiger*innen-Verhalten reflektieren

 

**Die ›Fakultät Darstellende Kunst‹ beim Strafverteidigertag 2020 in der Universität der Künste ist ein Impulsgeber für die Künste der strafrechtlichen Interaktion ab dem Erstgespräch. Das darstellende Spiel – auf der AG-eigenen Bühne und im Werkstattbereich – wird gemeinsam festgelegt und reflektiert. Dies ermöglicht eine enge, praxisorientierte und vor allem projektbezogene Zusammenarbeit, die die Arbeitsweise am Gericht szenisch verstehen hilft. Hierbei wird großer Wert darauf gelegt, dass die Teilnehmer*innen schon früh eigenverantwortlich tätig werden. 

Wichtig: Die AG ist kein ›closed shop‹, es gilt die Reihenfolge der Anmeldungen!

 

** Ankündigung in Anlehnung an den Text der Universität der Künste zur ›Fakultät Darstellende Kunst‹ 

 

Die Teilnehmerzahl ist auf 30 Personen begrenzt. Ein AG-Wechsel während des Tages ist nicht erwünscht. Interesent*innen melden sich bitte vorab und verbindlich für die AG an. Es erfolgt eine Anmeldebestätigung. 

 

Referent*innen: 

Rechtsanwalt Andreas Mroß, Lübeck; 

Swantje Nölke, Theaterpädagogin, Projektleitung, kulturinitiative zwenkau e.V., Leipzig 

Sarah Eger, Theaterpädagogin/ Projektkoordinatorin, Sinus - Büro für Kommunikation, Leipzig

 

 

Historischer Vortrag

Strafrecht, Strafjustiz und Strafverteidigung im NS.
Lehren und Kontinuitäten

Mit Prof. Dr. Kai Ambos & Rechtsanwalt Prof. Dr. Stefan König

 

Kai Ambos und Stefan König werden ihren gemeinsamen Vortrag durch zwei 15 - 20 minütige Eingangsstatements einleiten. 

Ambos wird auf der Grundlage seines »NS Strafrecht« (Nomos 2019) den theoretisch-wissenschaftspolitischen Rahmen thesenartig darlegen und dabei insbesondere auf (1) die Grundelemente des NS-Strafrechts, (2) die Rolle der Strafrechtswissenschaft samt personeller und inhaltlicher Kontinuität sowie (3) die Rolle der Justiz eingehen. 

König wird die Rolle und Bedeutung der Strafverteidigung in diesem justiziellen Kontext darstellen und dabei auch auf verbliebene Handlungsspielräume hinweisen.

Danach werden die Referenten in eine – von einem Fachjournalisten moderierte – Diskussion untereinander und mit dem Publikum eintreten.

 

 

Die Veranstaltung findet am Samstag im Anschluss an die Arbeitsgruppen statt. 

 

Digitale Forensik und computer-gestützte Beweismittelauswertung

Ausstellung und Fachvorträge

 

Strafverteidigung ist zunehmend mit digitalen Beweisen konfrontiert. Nicht nur in Fällen von Cybercrime oder Umfangsverfahren organisierter Kriminalität, sondern auch in weniger komplexen Strafsachen spielen digitale Daten oft in großen Mengen als Beweismittel eine Rolle. 

 

Die weite Verbreitung von Smartphones, die neben der klassischen Telefonie mehr noch der permanenten Aufzeichnung umfänglicher Kommunikation via E-Mails und Chats sowie der Vermessung von Bewegungs- und Aktionsmustern dienen und geradezu ein „ausgelagertes Gedächtnis“ darstellen, führt dazu, dass – so die Schätzung von IT-Experten – etwa in 85% der Strafsachen Handy-Daten, Funkzellenabfragen oder TKÜ-Maßnahmen in den Ermittlungen eine Rolle spielen. Zukünftig wird mit der sich beschleunigenden Digitalisierung aller Lebensbereiche von digitaler Medizin über autonomes Fahren bis zum Internet der Dinge der Bereich potenzieller elektronischer Beweismittel weiter massiv ausgeweitet. 

 

Während Polizei und Staatsanwaltschaft im Bereich digitaler Beweise über Jahre massiv aufgerüstet haben (Cyber-Kriminalisten und Cyber-Staatsanwälte) ist von Cyber-Strafverteidigern kaum etwas zu sehen – Waffengleichheit: Fehlanzeige. 

 

Die für den 44. Strafverteidigertag in Berlin geplante Ausstellung mit Fachvorträgen zum Thema Digitale Forensik und zur Anwendung computergestützer Methoden digitaler Beweisanalyse soll hier ein Wende einleiten. 

 

Mit der ARINA AG, welche die Vertreter der forensischen IT-Hersteller vermittelt und mit Swiss FTS wird den Interessierten des Strafverteidigertages ein langjähriges Fachwissen rund um den Bereich Digitale Forensik & Investigation angeboten. 

 

Auf der Fach-Ausstellung werden Hersteller und Experten die Funktionen von Software-Tools verständlich vorstellen, konkrete Fragen beantworten und Anwendungsmöglichkeiten für die Strafverteidigung aufzeigen. 

 

Vertreter von Cellebrite und MSAB, den Markführern im Bereich Smartphone-Daten-Auswertung ¬ u.a. mit den auch unter Strafverteidigern bekannten Tools UFED und XRY sowie von Nuix, Reveal Data, Magnet Forensic und Forinco, Tools, die zur Aufbereitung, Verarbeitung und Auswertung großer und heterogener digitaler Datenmengen in komplexen Strafsachen z.B. im Wirtschaftsstrafrecht eingesetzt werden – stellen die Einsatzmöglichkeiten bei der Aufbereitung digitaler Daten für das Beweisverfahren dar. 

 

Am Beispiel der Anwendung von Provalis-Software werden Möglichkeiten der eigenständigen Inhaltsauswertung großer Mengen von Textdaten (z.B. einer Vielzahl von Zeugen- und Beschuldigtenaussagen) durch die Strafverteidiger dargestellt. 

 

Das ebenfalls vertretene Projekt FORMOBILE, das im Rahmen von Horizon2020 mit 7 Millionen Euro gefördert wird, zielt darauf ab, eine neue Generation von Software zur Datenerfassung zu schaffen und dabei zugleich europaweite Standards für den Erfassungs- und Verarbeitungsprozess zu setzen wie auch qualifizierte Trainingsformen zur Vermittlung der Standards im Bereich der Strafverfolgung zu erarbeiten. Strafverteidiger sollten hier einbezogen werden. 

 

Neben dem Ausstellungsteil werden Einzelvorträge und Workshops zu folgenden Themen angeboten, die jeweils auch als Anwendungsbeispiele genannter Software-Tools dienen: 
- Ermitteln mit Digitalen Daten

- Ermitteln rund um das Thema Mobile-Forensik

- Analyse von Massendaten aus Smartphones und Cloud

- Handhabung von Passwortsperren, respektive verschlüsselten Daten

- Effizientes Sichten und Klassifizieren von Digitalen Daten/Beweismitteln

- Services und SaaS Lösungen

- Computergestützte Analyse von Massen-Text-Daten

 

Vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklung digitaler Forensik stellen sich aus Sicht der Strafverteidiger eine Reihe von Fragen mit Blick auf die Gewährleistung der Waffengleichheit im Zugang und der Verarbeitung digitaler Beweise, die an die Gesetzgebung, Justizpolitik aber auch hinsichtlich Aus- und Weiterbildung zum Umgang mit eEvidence zu stellen sind. Auch dazu kann es vor dem Hintergrund der IT-Ausstellung eine Verständigung geben. 

 

Die Veranstaltung ist als Ausstellung rund um den Lichthof der Technischen Universität am Samstag während der Zeit der Arbeitsgruppen geplant. Zusätzlich wird es Kurzeinführungen in die vorgestellte Technik und Software geben. Genaue Informationen erhalten Anmelder*innen im Vorfeld der Tagung.