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Presseerklärung: »Unwahre Verfahrensrügen« - Zur Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs (Nr. 115/2006) v. 11.8.2006

22.08.2006
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Strafverteidigervereinigungen | Organisationsbüro

Berlin, 18. August 2006

Presseerklärung: »Unwahre Verfahrensrügen« - Zur Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs (Nr. 115/2006) v. 11.8.2006

Unter der Überschrift »Bundesgerichtshof tritt rechtsmissbräuchlichem Verteidigerverhalten entgegen« hat der Bundesgerichtshof am 11. August 2006 eine Presseerklärung veröffentlicht. Die Strafverteidigervereinigungen treten der einseitigen und wenig selbstkritischen Presseerklärung des höchsten Fachgerichts in Strafsachen entgegen.

Nach Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Verfahrensrüge vom Revisionsverteidiger nur dann zulässig erhoben, wenn er einen Verfahrensvorgang behauptet und sich zum Beweis auf das Hauptverhandlungsprotokoll beruft; er darf also nicht vortragen, aus dem Protokoll ergebe sich dieser oder jener Umstand. Vielmehr muss er behaupten, die Dinge hätten sich tatsächlich so zugetragen. Weiß der Verteidiger, dass das Protokoll fehlerhaft ist, gerät er in ein Dilemma: Die Pflicht zur bestmöglichen Vertretung der Interessen des Mandanten kollidiert mit dem beruflichen Selbstverständnis. In der Fachliteratur gilt als anerkannter Ausweg, die Verteidigung in der Revision einem Kollegen zu übertragen, der die Unrichtigkeit des Protokolls nicht aus eigener Anschauung kennt.

Im zugrundeliegenden, vom 3. Strafsenat entschiedenen Verfahren hat sich der Bundesgerichtshof mit einer solchen »unwahren Protokollrüge« befasst. Abschätzig formuliert die Presseerklärung, die Rüge durch einen bisher unbeteiligten Anwalt werde »insbesondere in Kreisen der Strafverteidiger« für zulässig erachtet. Der Bundesgerichtshof sei »dieser Praxis« entgegengetreten. Er hat die Behauptung eines Verfahrensfehlers unter Berufung auf das insoweit fehlerhafte Protokoll dann als rechtsmißbräuchlich missbilligt, wenn der Beschwerdeführer sicher weiß, dass sich der Fehler unzweifelhaft nicht ereignet hat.

Der Bundesgerichtshof übersieht in seiner Presseerklärung geflissentlich, dass die »unwahre Protokollrüge« unendlich viel seltener ist als das unwahre Protokoll. Die Formenstrenge des Revisionsverfahrens erlaubt einem Angeklagten gerade nicht den Einwand, das Protokoll sei fehlerhaft. Stempel, Textbausteine, ja ganze Vordrucke über Belehrungen und Geschehensabläufe, von Geschäftsstellenbeamten routinemäßig verwendet, beweisen für die Revisionsgerichte unumstößlich, dass sich all das ereignet habe, was Stempel, Textbaustein und Vordruck wiedergeben. Da nützt es dem Verteidiger nichts, wenn er vorträgt, wie es wirklich gewesen ist, denn mit dem Einwand des unwahren Protokolls wird der Angeklagte – von der raren Ausnahme eines erfolgreichen Protokollberichtigungsantrags abgesehen – nicht gehört, solange das Protokoll nicht unklar oder widersprüchlich ist. Die vom unwahren Protokoll gedeckten Verfahrensfehler bleiben auch in der Revision unkorrigiert: Der Bundesgerichtshof verwirft die Revision gegen das fehlerhaft zustande gekommene Urteil; das unwahre Protokoll setzt sich ohne weiteres gegen die materielle Gerechtigkeit durch.

Man könnte daher ohne weiteres mit dem 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (Beschl. v. 3. Mai 2006 – 4 ARs 3/06) festhalten, dass §274 StPO, der vorschreibt, dass die Beachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden kann, als Grundlage für das Revisionsverfahren eine Beweisregel aufstellt, die der formalen Zweckmäßigkeit Vorrang vor der absoluten Wahrheit einräumt und der Gesetzgeber das bewusst so gewollt hat. Eine Rüge, die sich auf Mängel des Protokolls zugunsten des Angeklagten stützt, stellt sich dann als prozessrechtlich bedingter Ausgleich für die eben geschilderten Fälle dar, der wenigstens statistisch so etwas wie Gerechtigkeit erkennen lässt. Die angegriffenen »Kreise der Strafverteidiger« befinden sich keineswegs in schlechter Gesellschaft.

Beunruhigend und bestürzend ist daher die Nonchalance, mit der Verteidigern »Rechtsmissbrauch« vorgeworfen wird, während bei Gericht mit zweierlei Maß gemessen werden soll: Weicht das Protokoll zum Nachteil des Angeklagten von der Wirklichkeit ab, so gilt das Protokoll. Weicht das Protokoll zugunsten des Angeklagten von der Wirklichkeit ab, so gilt die Wirklichkeit.

Würde der Ablauf der Hauptverhandlung mit modernen technischen Mitteln dokumentiert, könnten derartige Abweichungen der Dokumentation von der Wirklichkeit gar nicht erst auftreten. Die Strafverteidigervereinigungen ebenso wie der Deutsche AnwaltVerein haben die Forderung nach zuverlässiger Dokumentation der Hauptverhandlung schon oft erhoben; die Entscheidung des Bundesgerichtshofs gibt Anlass, sie mit Nachdruck zu wiederholen. Sie stößt aber gerade in Kreisen von Revisionsrichtern auf besonders wenig Gegenliebe. Warum eigentlich?

Rechtsanwalt Jasper von Schlieffen

Geschäftsführer

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